Karl Barth: Prophet der Kirche

Der Schweizer Theologe Karl Barth ist der herausragendste und konsequent evangelischste Theologe der Moderne genannt worden. Papst Pius XII. (1876–1958) nannte Barth den bedeutendsten Theologen seit Thomas von Aquin. Aus welcher Warte man ihn auch sieht: Karl Barth hat auf moderne christliche Kirchenführer und Gelehrte vieler verschiedener Traditionen tief greifenden Einfluss gehabt.

Lehrjahre und Glaubenskrise

Barth wurde am 10. Mai 1886 geboren, auf dem Höhepunkt des Einflusses der liberalen Theologie in Europa. Er war Schüler und Jünger von Wilhelm Herrmann (1846–1922), einem führenden Vertreter der so genannten anthropologischen Theologie, die sich auf persönliche Gotteserfahrung gründet. Barth schrieb über ihn: Herrmann war der theologische Lehrer meiner Studentenzeit. [1] In diesen frühen Jahren folgte Barth auch den Lehren des deutschen Theologen Friedrich Schleiermacher (1768–1834), des Vaters der modernen Theologie. Ich war geneigt, ihm fide implicita [blind] auf der ganzen Linie Kredit zu geben, schrieb er. [2]

1911–1921 arbeitete Barth als Pastor der reformierten Gemeinde von Safenwil in der Schweiz. Ein Manifest, in dem 93 deutsche Intellektuelle sich für die Kriegsziele Kaiser Wilhelms II. aussprachen, erschütterte im August 1914 sein liberales Glaubensgebäude in den Grundfesten. Auch die von Barth verehrten liberalen Theologieprofessoren gehörten zu den Unterzeichnern. Damit kam eine ganze Welt von Exegese, Ethik, Dogmatik und Predigt, die ich bis dahin für grundsätzlich glaubwürdig gehalten hatte … bis auf die Grundlagen ins Schwanken, sagte er.

Barth glaubte, seine Lehrer hätten den christlichen Glauben verraten. Indem das Evangelium in eine Aussage, eine Religion, über das Selbstverständnis des Christen verwandelt worden sei, habe man den Gott aus den Augen verloren, der in seiner Souveränität dem Menschen gegenübertrete, von ihm Rechenschaft verlange und an ihm handle als Herr.

Eduard Thurneysen (1888-–1974), Pastor eines Nachbardorfes und Barths enger Freund aus der Studentenzeit, erlebte eine ähnliche Glaubenskrise. Eines Tages flüsterte Thurneysen Barth zu: Was wir für Predigt, Unterricht und Seelsorge brauchen, ist eine ‚ganz andere’ theologische Grundlegung. [3]

Gemeinsam rangen sie um eine neue Grundlage für die christliche Theologie. Es galt, beim erneuten Erlernen des theologischen ABC noch einmal und besinnlicher als zuvor mit der Lektüre und Auslegung der Schriften des Alten Testaments und des neuen Testaments einzusetzen. Und siehe da: sie begannen zu uns zu reden … [4] Eine Rückkehr zu den Ursprüngen des Evangeliums tat not. Es galt, mit neuer innerer Orientierung noch einmal ganz von vorn anzufangen und Gott wieder als Gott anzuerkennen.

Römerbrief und Kirchliche Dogmatik

1919 erschien Barths bahnbrechender Kommentar Der Römerbrief und erfuhr 1922 für eine Neuauflage eine vollständige Überarbeitung. Sein revidierter Römerbrief entwarf ein kühnes neues theologisches System, in dem ganz schlicht Gott in seiner Eigenständigkeit gegenüber dem Menschen, und erblicken meinen. [5]

Im Brief des Paulus und in anderen biblischen Schriften fand Barth eine neue Welt. Eine Welt, in der nicht mehr die rechten Menschengedanken über Gott, sondern die rechten Gottesgedanken über die Menschen sichtbar wurden. [6] Barth erklärte Gott zum radikal Anderen, das über unser Verständnis hinausgehe, das uns verbogen bleibe, dass das unserem Empfinden fremd und nur in Christus erkennbar sei. Eben Gottes recht verstandene Göttlichkeit schliesst ein: seine Menschlichkeit. [7] Theologie müsse Lehre von Gott und vom Menschen sein. [8]

1921 wurde Barth Professor für Reformierte Theologie in Göttingen, wo er bis 1925 lehrte. Sein Kerngebiet war die Dogmatik, die er als Besinnung auf das Wort Gottes als Offenbarung, hl. Schrift und christliche Predigt … die tatsächliche christliche Predigt definierte. [9]

1925 wurde er als Professor für Dogmatik und Neutestamentliche Exegese nach Münster berufen und fünf Jahre später auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie nach Bonn, den er bis 1935 innehatte.

1932 veröffentlichte er den ersten Teil der Kirchlichen Dogmatik. Das neue Werk erwuchs Jahr für Jahr aus seinen Vorlesungen.

Die Dogmatik hat vier Teile: Die Lehre vom Worte Gottes (KD I), Die Lehre von Gott (KD II), Die Lehre von der Schöpfung (KD III) und Die Lehre von der Versöhnung (KD IV). Die Teile umfassen jeweils mehrere Bände. Ursprünglich hatte Barth das Werk auf fünf Teile ausgelegt. Den Teil über Versöhnung konnte er nicht mehr fertig stellen, und der Teil über Erlösung blieb nach seinem Tode ungeschrieben.

Thomas F. Torrance nennt Barths Dogmatik den mit Abstand originärsten und bemerkenswertesten Beitrag zur systematischen Theologie der Moderne. KD II, Teil 1 und 2, insbesondere die Lehre von Gottes Sein in der Tat und Gottes Tun in seinem Sein, hält er für den Höhepunkt der Barth’schen Dogmatik. KD IV ist in Torrances Augen das wirkungsmächtigste je geschriebene Werk über die Sühneund Versöhnungslehre.

Christus: Erwählter und Erwähler

Barth unterwarf die gesamte christliche Glaubenslehre einer radikalen Kritik und Neuinterpretation im Licht der Fleischwerdung. Er schrieb: Meine neue Aufgabe war, alles vor her [von mir] Gesagte noch einmal anders, nämlich jetzt als eine Theologie der Gnade Gottes in Jesus Christus zu durchdenken und auszusprechen. [10] Barth suchte die christliche Predigt als Tätigkeit zu verorten, welche das machtvolle Handeln Gottes verkündet und nicht das Handeln und die Worte von Menschen.

Christus steht in der Dogmatik von Anfang bis zum Ende im Mittelpunkt. Karl Barth war ein christlicher Theologe, dem es vor allem um die Einmaligkeit und Zentralität Christi und seines Evangeliums ging (Torrance). Barth: Verfehlt man sich hier, so hat man sich im Ganzen verfehlt. [11] Dieser Ansatz und diese Verwurzelung in Christus bewahrte ihn davor, in die Falle der natürlichen Theologie zu gehen, die dem Menschen legitime eigene Autorität über die Botschaft und die Form der Kirche zuschreibt.

Barth bestand darauf, dass Christus die offenbarende und versöhnende Instanz sei, durch die Gott zum Menschen spreche; in Torrances Worten, der Ort, an dem wir den Vater erkennen. Gott wird nur durch Gott erkannt, pflegte Barth zu sagen. [12] Eine Aussage über Gott sei wahr, wenn sie im Einklang mit Christus stehe; zwischen Gott und dem Menschen stehe die Person Jesu Christi, selbst Gott und selbst Mensch, der zwischen beiden vermittle. In Christus offenbare sich Gott dem Menschen; in ihm sehe und er kenne der Mensch Gott.

In seiner Prädestinationslehre ging Barth von der Erwählung Christi in einem doppelten Sinn aus: Christus als Erwählter und Erwählender zugleich. Jesus ist nicht nur der erwählende Gott, sondern auch der erwählte Mensch. [13] Erwählung hat daher ausschliesslich mit Christus zu tun, an dessen Erwählung wir – von ihm erwählt – teilhaben. Im Lichte der Erwählung des Menschen kann – so Barth – alle Erwählung nur als freie Gnade beschrieben werden.

Vor und nach dem Zweiten Weltkrieg

Barths Jahre in Bonn fielen mit dem Aufstieg und der Machtergreifung Adolf Hitlers zusammen. Eine nationalsozialistisch bestimmte Kirchenbewegung, die Deutschen Christen, suchte den Führer als gottgesandten Heilsbringer zu legitimieren.

Im April 1933 wurde die Deutsche Evangelische Kirche gegründet mit dem Ziel, das deutsche Ethos über Rasse, Blut und Boden, Volk und Staat (Barth) als zweite Grundlage und Offenbarungsquelle für die Kirche einzuführen. Als Gegenbewegung entstand die Bekennende Kirche, die diese nationalistische und menschenzentrierte Ideologie ablehnte. Barth war eine ihrer führenden Gestalten.

Im Mai 1934 gab sie die berühmte Barmer Theologische Erklärung heraus, die überwiegend von Barth stammt und seine christusbezogene Theologie spiegelt. In sechs Artikeln fordert die Erklärung die Kirche auf, sich ausschliesslich an Christi Offenbarung und nicht an menschlichen Mächten und Gewalten zu orientieren. Ausserhalb des einen Gotteswortes gebe es keine weitere Quelle für die kirchliche Verkündigung.

Im November 1934 verlor Barth die Lehrerlaubnis in Bonn, nachdem er sich geweigert hatte, einen bedingungslosen Treueid auf Adolf Hitler zu unterzeichnen. Im Juni 1935 formell amtsenthoben, bekam er sofort einen Ruf in die Schweiz als Theologieprofessor in Basel, eine Position, die er bis zu seiner Pensionierung 1962 innehatte.

1946, nach dem Krieg, wurde Barth wieder nach Bonn eingeladen, wo er eine im Folgejahr als Dogmatik im Abriss publizierte Vorlesungsreihe hielt. Aufgebaut nach dem Apostolischen Glaubensbekenntnis, behandelt das Buch Themen, die Barth in seiner voluminösen Kirchlichen Dogmatik entwickelt hatte.

1962 besuchte Barth die USA und hielt am Princeton Theological Seminary und an der Universität von Chicago Vorlesungen. Auf die Bitte, den theologischen Sinn der Millionen Wörter der Kirchlichen Dogmatik auf eine kurze Formel zu bringen, soll er einen Augenblick überlegt und dann gesagt haben:
Jesus liebt mich, das steht fest. Weil’s die Schrift erkennen lässt. Ob das Zitat authentisch ist oder nicht: So hat Barth Fragen oft beantwortet. Es spricht daraus seine Grundüberzeugung, dass im Kern des Evangeliums eine einfache Botschaft steht, die auf Christus als unseren Erlöser verweist, der uns mit vollkommener göttlicher Liebe liebt.

Seine revolutionäre Dogmatik verstand Barth nicht als das letzte Wort der Theologie, sondern als Eröffnung einer neuen gemeinsamen Aussprache. [14] Bescheiden gesteht er seinem Werk nicht unbedingt Ewigkeitswert zu: Irgendwo auf einem himmlischen Estrich werde er irgendwann einmal auch die Kirchliche Dogmatik … zum Altpapier geworden, deponieren dürfen. [15] In seinen letzten Vorlesungen kommt er zu dem Schluss, seine theologischen Einsichten würden in der Zukunft zu einem Umdenken führen, denn die Kirche sei gehalten, an jedem Tag, ja zu jeder Stunde, wieder am Punkt Null anzufangen.

Am 12. Dezember 1968 ist Karl Barth, im Alter von 82 Jahren alt, in Basel gestorben.

von Paul Kroll


pdfKarl Barth: PROPHET der Kirche

Literatur
Karl Barth, Die Menschlichkeit Gottes. Biel 1956
Karl Barth, Kirchliche Dogmatik. Bd. I / 1. Zollikon, Zürich 1952 dito, Bd. II
Karl Barth, Der Römerbrief. 1. Fassung. Zürich 1985 (im Rahmen der Barth-Gesamtausgabe)
 
Karl Barth, Dogmatik im Abriss. München 1947
Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. München 1978
Thomas F. Torrance, Karl Barth: Biblical and Evangelical Theologican. T. & T. Clark 1991

Verweise:
 1 Busch, S. 56
 2 Busch, S. 52
 3 Römerbrief, Vorwort, S. IX
 4 Busch, S. 120
 5 Busch, S. 131–132
 6 Busch, S. 114
 7 Busch, S. 439
 8 Busch, S. 440
 9 Busch, S. 168
10 Busch, S. 223
11 Busch, S. 393
12 Busch, passim
13 Busch, S. 315
14 Busch, S. 506
15 Busch, S. 507